Der Madonna/Hure - Komplex:

Eine Interpretation
aus primärtherapeutischer Sicht

von John A. Speyrer


"Mancher Ehemann sieht nach der Geburt des ersten Kindes seine Ehefrau eher als Mutter
denn als Frau und Geliebte. Was diese wiederum so sehr enttäuschen kann,
dass sie ihn schließlich verlässt. Woraufhin er dann wieder genau so
ohne "Mutter" dasteht, wie vor der Ehe.

-- Dr. Arthur Janov in "The Biology of Love"
( Die Biologie der Liebe )

Gesunde Beziehungen zeichnen sich dadurch aus, dass über die Zeit und mit den
gemeinsam gemachten Erfahrungen, das sexuelle Erleben sich stetig vertieft.
Ist Sex jedoch Suchtmittel, so wird es sich stetig abschwächen,
je vertrauter die andere Person wird. Damit verdrängten Gefühlen
zu entfliehen wird dann zunehmend unmöglich.

-- Dr. Charlotte D. Kasl in "Women, Sex and Addiction"
( Frauen, Sex und Abhängigkeit )




Eine universale Definition des Madonna/Hure - Komplexes gibt es nicht. Typischer Weise dreht sich die Diskussion dieses Themas um das Gegensatzpaar der männlichen Wahrnehmung der Frau als zwei verschiedener und getrennter Wesen, das der Heiligen und das der Sünderin, das der Mutter und das der Hure. Der Komplex kann sich ebenso auf die Unterscheidung göttlicher von weltlicher Liebe beziehen.

Welche Psychodynamik ist nun am Werk, wenn ein Mann zwar nicht in der Lage ist, sich sexuell auf Frauen ein zu lassen, für die er Liebe empfindet, aber leicht von solchen Frauen erregt wird, die von Anfang an kein ideales Liebesobjekt für ihn darstellen?

Die meisten Autoren sehen im Madonna/Hure - Komplex, wenn der Mann die Frau als ein a-sexuelles, "geheiligtes" Liebesobjekt betrachtet, eine unbewusste Dynamik am Werk.

Auch wird, von vielen psychoanalytisch ausgerichteten Autoren, die unbewusste Furcht vor Inzest mit der Mutter als ein Faktor in diesem Zusammenhang gesehen. Nach Freud entsteht der Oedipus Komplex in der späten Kindheit. In seiner Sicht stellt er eine natürliche Zwischenstufe in der psychologischen Entwicklung des Kindes dar. Eine Zeit also, in der sich der Sohn in die Mutter, die Tochter in den Vater verliebt. Freud nahm an, dass in der Lösung von oder dem Auswachsen aus dieser Bindung die Voraussetzung für eine normalentwickelte Sexualität zu sehen ist. Praktisch alle Analytiker nach ihm hoben die Bedeutung des Ödipus-Komplexes, beziehungsweise einer übermäßig stark festhaltenden Bindung der Mutter an den Sohn, als einem wichtigen Faktor bei der Entstehung des Madonna/Hure - Komplexes hervor. Einige Autoren weisen auch besonders darauf hin, dass andauernde Fixierung des Sohnes auf die Mutter einfach deswegen auftritt, weil eben sie sein erstes Liebesobjekt war.

Aus derart fixierten Söhnen, wird dann behauptet, werden im Erwachsenenalter zwar glühende Verehrer, aber wenn dann das Liebesobjekt zur Ehefrau und ganz besonders zur Mutter wird, durchdringen unbewusste Erinnerungen an die eigene übermäßig intensive Mutterbindung diese Beziehung. Von da ab kann es sein, dass der Ehemann seine Frau unbewusst als Mutter wahrnimmt und in der Folge zum zögerlichen, wenn nicht impotenten Liebhaber wird.


Betrachtet man nun den Madonna/Hure - Komplex aus primärtherapeutischer Perspektive macht es eher Sinn, die zur Mutter gewordenen Ehefrau als Auslöser für die unbewusste Erinnerung des Gatten an das von seiner Mutter unbefriedigt gelassene Bedürfnis nach Liebe zu sehen. Als Kind hatte dieser nämlich keineswegs eine zu enge Mutterbindung sondern war vielmehr auf Distanz gehalten worden. War seine Partnerwahl schon von den Eigenschaften der eigenen Mutter geprägt, kommt dann, nachdem er eine solche gefunden hat, in ihm diese frühkindliche Dynamik zum Tragen, die erwartet, jetzt endlich die Liebe zu bekommen, die ihm als Kind gefehlt hat.

Die Furcht vor intimer Nähe kann sich dann als Abwehr des Innewerdens dieser frühen Verletzungen entwickeln. In diesen Fällen setzt sich die Suche nach der geliebten Mutter bis in die eheliche Beziehung hinein fort und ist dann, seitens des Gatten, der Grund für unrealistische Erwartungen, weil er ja in der Beziehung zu seiner Frau noch immer die Mutter sucht.

Dieses Ausagieren kann ein ganzes Leben lang andauern und zu gegenseitigen Vorwürfen, zu Untreue, Scheidung beziehungsweise zum Unglücklichsein beider Ehepartner führen. Die Ehe wird dann zum Schlachtfeld, auf dem sowohl Er als auch Sie, ohne sich dessen bewusst zu sein, viele ihrer früheren und unterdrückten Gefühlen von Verletzung, Wut und Feindseligkeit, die ursprünglich den Eltern galten, jetzt auf den Ehepartner richten.

Auf diese Weise kann das erotische ebenso wie das ganz normale Sich-Nahe-Sein in der Ehe unbewusste Erinnerungen an dieses erste Nähe-Erleben in der Mutter/Kind - Beziehung wach rufen. Um dem Hochkommen derartiger Erinnerungen zu entgehen, kann der Mann Sex mit seiner Gattin mehr und mehr vermeiden. Und das frühkindliche Trauma wird vielleicht dann am meisten berührt, wenn die eigen Frau Mutter wird, da dies unterdrückte Erinnerungen an die eigene Mutter/Kind - Beziehung wachruft.

Dabei ist nicht etwa der Sexualtrieb auf die erste enge Beziehung seines Lebens fixiert und der Ehemann unfähig, die erotische Bindung zu seine Mutter abzulösen und auf seine Frau zu übertragen. Vielmehr wurden frühere Bedürfnisse des Kindes nach Liebe und Sicherheit nicht befriedigt und die Dynamik dieser frühen enttäuschten Beziehung spielt dann in alle späteren Beziehungen hinein - was zuweilen auf die intime Beziehung von Eheleuten in ganz besonderem Maße zutrifft.

In der Gegenwart erlebte Nähe bildet so den Auslöser für verdrängte Verletzungs- und Verlustempfindungen aus der Vergangenheit. Sexuelles Suchtverhalten kann dagegen als ein Ausagieren benutzt werden - als ein Mittel, die Angst vor verdrängten Gefühlen zu vermeiden, gerade da ja in solchem Suchtverhalten Furcht vor Nähe enthalten ist - das Kennzeichen des sexuell Abhängigen.

Furcht vor Nähe kann sogar von der Geburt selbst herrühren. Wenn eine Geburt traumatisch war und Gefühle des Sterbens im Geburtskanal einschloss, kann es manchmal sogar sein, dass das Gehalten-Werden vom Partner unbewusst mit frühen Erinnerungen von schmerzlichem Gedrückt-Werden bei der Geburt in Verbindung gebracht wird. Je mehr Nähe und Anziehung sie erleben, um so stärker können bei Menschen, deren pränatale Entwicklung schmerzvoll war, Gefühle wie "raus kommen" zu wollen, ausgelöst werden. Die ersten neun Monate unseres Lebens standen vollständig im Zeichen nahen und engen Kontaktes zur Mutter.

War diese erste mütterliche ‚Berührung' im Verlauf der intrauterinen Entwicklungsphase schmerzvoll, dann kann das Wiedererinnern durchsetzt sein von den fötalen Eindrücken der Todesnähe, der Erstickung, dem Druck und dem Gefühl des Sterbens während des Geburtsvorgangs. Die Umschlingung und die Berührung der Liebenden kann ein Auslöser sein für das unbewusste Bedürfnis, diesem [ alten ] Schmerz zu entfliehen, den der enge emotionale und körperliche Kontakt in der Beziehung hat hoch kommen lassen.

Das Problem ist hier nicht die Inzestschranke, sondern vielmehr es die subtile Bewusstwerdung sehr früh enttäuschter Bedürfnisse oder von mit der Geburt im Zusammengang stehenden Traumatisierungen, die dazu führt, dass der Mann das Interesse verliert oder sogar impotent wird. Diese Männer können deswegen in ihren Ehefrauen keine Sexualobjekte mehr sehen, weil anders tief vergrabene Gefühle von ihrer Geburt und der frühkindlichen Mutterbeziehung hoch kommen würden. Also stimmt es irgendwie schon, dass eine Fixierung an die Mutter bei denen vorliegt, die im Madonna/Hure - Komplex feststecken. Jedoch keineswegs so, wie die psychoanalytische Psychologie das beschreibt.

Im Geburtstrauma konzentriert sich die ganze Bedürftigkeit des Neugeborenen und insofern stellt dieses einen wichtigen Faktor in dieser Dynamik dar. Das prä- und perinatale Trauma verstärkt, bestimmt und intensiviert dieses dem Madonna/Hure-Komplex zugrunde Drama - Herzblut von Seifenopern und des Lebens selbst.
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Übersetsung Reinhold W. Rausch


Mehr Informationen darüber, wie der Madonna/Hure-Komplex in der prä- und perinatalen Entwicklung verwurzelt sein kann, findet sich in der Buchbesprechung zu Dr. Alice Rose's The bonds of fire: Rekinding Sexual Rapture.


Über die Erfahrungen einer misshandelten Kindheit zu sprechen ist oftmals der erste Schritt auf einem langen Weg die unsichtbaren Wunden zu heilen. Sieglinde W. Alexander ist der Moderator einer Deutschen Yahoo-Supportgruppe für Erwachsene die als Kinder misshandelt wurden. http://de.groups.yahoo.com/group/aaacworld http://de.groups.yahoo.com/group/aaacworld


EMaK www.emak.org ist eine Webseite für Erwachsene Misshandelt als Kinder. Über die Erfahrungen einer misshandelten Kindheit zu sprechen ist oftmals der erste Schritt auf einem langen Weg die unsichtbaren Wunden zu heilen.

-- Sieglinde W. Alexander



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